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Zahlen für eine andere Republik

Von Rolf Dietrich Schwartz, in: Frankfurter Rundschau, Nr. 207 v. 06.09.1995, Seite 3

Theo Waigel hat mit seiner Einbringungsrede des Bundeshaushalts 1996, die er wohl mehr als CSU-Chef denn als Bundesfinanzminister hielt, kräftige Akzente gesetzt auf dem Weg in eine andere Republik. Seine in Zahlen ausgedrückte Regierungserklärung vernebelt allerdings mehr die Kursänderung in Richtung voriges Jahrhundert, als daß sie aufklärt über die Konsequenzen der neuen Ziele. Kürzungen im Sozialetat neben Zulagen für die Rüstungsausgaben; gut eine Milliarde Mark für den Umweltschutz, knapp 50 Milliarden Mark für die Verteidigung; immer mehr Exporthilfen für Kriegsgerät, immer weniger Entwicklungshilfe für die Dritte Welt; Bildungsförderung nach unten, Luftwaffenförderung nach oben; Umschichtungen vom sozialen Wohnungsbau zur künftigen Verkehrsruine der Magnetschwebebahn Transrapid und - nicht zuletzt - Bekämpfung der Arbeitslosen "beim Verweilen im sozialen Netz" (Waigel) statt der Arbeitslosigkeit.

Wenn Waigel bei seiner Jagd nach dem Phantom einer niedrigeren Staatsquote seinen Haushalt unter das Motto: "Sparen und Gestalten" stellt, hat er durchaus recht. Allerdings nicht in dem von ihm simulierten Sinne, ein Zahlenwerk zur Erfüllung der Zukunftserfordernisse vorgelegt zu haben. Abgesehen von den Warnungen seines eigenen Wissenschaftlichen Beirats vor falscher Zahlengläubigkeit wegen der "fehlenden Aussagefähigkeit von Staatsquoten", treibt Waigel mit seiner angeblich "symmetrischen Finanzpolitik" aus gleichzeitigem Abbau der Steuer- und (Neu-)Verschuldungsquote ein doppeltes Spiel. Wenn er spart - und nicht nur Lasten abwälzt -, kürzt er bei den Bedürftigen. Wenn er gestaltet, verwöhnt er die Wohlhabenden. Ein Robin Hood des "Thatcherismus", der den Armen nimmt und den Reichen gibt. Das Ergebnis dieser Art Modernisierung können jenseits des Kanals besichtigt werden.

Fast unbemerkt hat sich in den bald 13 Jahren der Ära Kohl das Klima in der Gesellschaft gewandelt, mit dem sich am Kabinettstisch arbeiten läßt. Heutzutage erntet der Finanzminister nicht nur Beifall im Hohen Hause, sondern fast im ganzen Publikum für seine "Selbstverständlichkeit", daß Rüstungsproduktion zum Erhalt von Arbeitsplätzen unverzichtbar ist. Noch vor einem Jahrzehnt wäre eine solche Behauptung auf staatstragende Entrüstung gestoßen, weil damals nur die "Systemüberwinder" des staatsmonopolistischen Kapitalismus (Stamokap) so geredet haben. Nun brüstet sich Kohls Kassenwart mit dem Abbau von Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor nach dem Vorbild der Arbeitsplatzvernichtungsmaschinerie im privaten Bereich. Früher hielt es sich ein Regierungschef zugute, wenn er etwas zur Stabilisierung des Arbeitsmarkts beitragen konnte. Vorbei sind die Zeiten, in denen Subventionsabbau zur Stärkung der sozialen Marktwirtschaft gepredigt wurde. Inzwischen dringen nur noch "unzuverlässige Genossen" auf die Beseitigung von Steuerschlupflöchern und überholten Begünstigungen, weil diese von der politischen Mehrheit zum Standortfaktor veredelt worden sind.

Waigels Motto vom "Sparen und Gestalten" hat - mit klammheimlicher Freude von den "Leistungsträgern" in der Wirtschaft registriert - jetzt einen ganz anderen Anstrich als dieselbe Devise in den 80er Jahren. Wenn der Finanzminister in seiner Einbringungsrede "Schluß mit der Umverteilung" fordert, können seine Freunde sicher sein, daß sie weitergeht, wenn auch in andere Richtung als früher beklagt. Dafür spricht seine Ankündigung über eine weitere Steuerentlastung der Unternehmen, obwohl deren Beiträge zur Finanzierung des Staatswesens schon heute auf zu vernachlässigende Grössenordnungen geschrumpft sind. Alle jammern über die hohen Steuerlasten, aber nur wenige Eingeweihte beklagen die noch schwereren Beitragsbürden, mit denen - systemfremd - eigentlich vom Steuerzahler zu finanzierende gesamtstaatliche Aufgaben bezahlt werden. Sämtliche Kabinettsmitglieder entschuldigen ihr Nichtstun mit der angeblichen öffentlichen Kassenebbe. Niemand unter ihnen ist Manns (oder Frau) genug, auf ein Ende der salonfähig gewordenen Steuerhinterziehungen im dreistelligen Milliarden-Umfang zu bestehen, mit denen sogar noch bequem Steuererleichterungen für alle finanziert werden könnten. Waigel brüstet sich heute mit einem Jahressteuergesetz, das seinen anfänglichen Intentionen völlig zuwiderläuft und nur dank der "Schutzmacht der kleinen Leute" auf die Bedürfnisse breiterer Bevölkerungskreise zugeschnitten worden ist.

Aber die "kleinen Leute" merken offenbar nichts. Darauf beruht Kohls Regierungskunst und die seiner Künstler, die es fertigbringen, die Interessen einer Minderheit als nützlich für die Mehrheit auszugeben. Politik ist die Kunst des Möglichen. Von der - längst vergessen - ins Programm der CDU gehobenen "ökologischen sozialen Marktwirtschaft" ist in der Regierungspraxis nicht viel übrig geblieben. Wenn schon die SPD als glaubwürdige Opposition versagt, sollten wenigstens die Unionsanhänger auf die Einhaltung ihres Parteiprogramms bestehen.


bay, 14.1.2001, URL www.michael-bayer.de