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Freischuß-Regel führt zum Schein-Studium

aus: Frankfurter Rundschau, Nr. 178 v. 03.08.1995, Seite 8

In Gesprächen mit Studentinnen und Studenten gerade des Studienganges Lehramt an Gymnasien wird man auf ein Problem aufmerksam gemacht, das die Freischußregelung mit sich bringt: das Problem zunehmender Schmalspurigkeit des Studiums. Von besonders leistungsfähigen und motivierten Studentinnen und Studenten wird offen gesagt, die Bildungsmöglichkeiten, die sich an den Universitäten böten, ergäben sich im Leben nur einmal und man denke nicht daran, des Freiversuchs wegen den Gesichtskreis zu verengen.

Sicherlich ist dies die Haltung einer Minderheit. Sie ist aber sehr ernst zu nehmen. Sie erlaubt ferner die Vermutung, daß entgegen der weitverbreiteten Hypothese es nicht die Begabtesten sind, die um eine kürzere Studiendauer bemüht sind und den Freiversuch anstreben. Das bedeutet aber, daß vielleicht solche Studierenden, die ohnehin wenig über die Zäune ihrer Fächer hinausschauen und sich nur begrenzt um das abseits von Prüfungs- und Studienordnung Liegende kümmern, am ehesten zu "Freischützen/ -innen" werden.

Im übrigen zeigt die große Zahl von Freiversuchkandidaten/-innen, daß die so oft beschworene Entrümpelungsbedürftigkeit in den Lehramtsstudiengängen gar nicht so groß sein kann, wie in vielen hochschulpolitischen Diskussionen angenommen wird. Gäbe es viel Gerümpel, gäbe es ein Uebermaß an überflüßigem, nicht zu bewältigenden Stoff, dann müßte die Zahl der Prüflinge mit kurzer Studienzeit zu null tendieren.

Hans Bungert, Prüfungsleiter der Universität Regensburg für Lehramt an öffentlichen Schulen, in: Forschung & Lehre, Mitteilungsblatt des Deutschen Hochschulverbandes, 6/1995


Zunächst ist anzürkennen, daß die Einführung des Freischusses in der juristischen Ausbildung absolut durchschlagende Wirkung gehabt hat. Während die Studiendauer bisher rund 12 Semester betragen hat, melden sich nach meinen Beobachtungen in Bielefeld fast alle Jura-Studenten und -Studentinnen am Ende des 8. Semesters zur ersten juristischen Staatsprüfung. Der Freischuß ist herrschende Meinung und "Zeitgeist". Nur verschwindend wenige Studenten wagen es noch, sich dem "Zeitgeist" und der "Freischusshysterie" (Formulierung eines Studenten) zu entziehen.

Wer die Verkürzung der Studienzeit zum einzigen oder entscheidenden Maßstab seiner Ansichten macht und wem es in erster Linie um die Einsparung von Finanzmitteln geht, um die öffentlichen Haushalte zu sanieren, hat in der Tat allen Anlaß zum Jubel. Von daher ist es folgerichtig und vollkommen verständlich, daß die Bildungspolitiker, die Justizminister und vor allem die Finanzminister den Freischuß als ganz großen Erfolg feiern.

Der Blick hinter die Kulissen zeigt indessen, daß hier - zum wiederholten Male - ein Potemkinsches Dorf aufgebaut worden ist und daß schon die kurzfristigen, erst recht aber die langfristigen Folgen dieser Maßnahme überhaupt nicht bedacht worden sind und überhaupt nicht gesehen werden.

Die Studenten gestalten nunmehr von früher ganz ungewohnten frühen Semestern an ihr gesamtes Studienverhalten einzig und allein unter dem Blickwinkel des Examens. Sie studieren nur noch prüfungstaktisch. Sie absolvieren die Uebungen nicht nur so früh wie irgend möglich, sondern viel zu früh. Im Studienjargon: Sie "erschlagen die Scheine" und wollen schon im fünften, spätestens im sechsten Semester "scheinfrei" werden.

Sofort danach gehen Sie zur Examensvorbereitung über und verlassen zu diesem Zweck die Universität endgültig. Sie absolvieren nur noch ein "Schein-Studium" in jeder Bedeutung des Wortes von fünf bis sechs Semestern - bezeichnenderweise übrigens genau die Dauer des Fachhochschulstudiums.

Dabei bleibt schon jede vertiefende, gründliche Erarbeitung der Kerngebiete des Rechts, die Examensstoff sind, auf der Strecke, was die verheerend schlechten Ergebnisse in den juristischen Prüfungen zur Folge hat. Vor allem bleiben die zahlreichen Rechtsgebiete vollkommen auf der Strecke, die zwar kein Pflichtfach im Examen sind, aber anders als diese unverändert gute bis hervorragende Berufsaussichten ermöglichen.

Das Wahlfachstudium und die wissenschaftliche Vertiefung, der Blick weit über den Horizont der provinziellen Prüfungsanforderungen sind aber gerade die Mittel der beruflichen Qualifikation, mit denen sich die guten Juristen von vornherein von der großen Masse abheben. Der Freischuß zementiert, ja verstärkt sogar noch die ohnehin schon seit Jahrzehnten scharf kritisierte Vernachlässigung der arbeitsmarktrelevanten und zukunftsträchtigen Fächer noch weiter. Der Freischuß verschlechtert also die ohnehin schon schwierigen Arbeitsmarktchancen der Juristen leichtfertig noch erheblich.

Harald Weber, Professor für Steuer-, Handels-, Wirtschaftsrecht und Rechtsgestaltung an der Universität Bielefeld, in: Forschung & Lehre, 6/1995


bay, 15.1.2001, URL www.michael-bayer.de