Wir brauchen andere Seminare! Wir wollen unsere Seminare selbst gestalten, und zwar von Anfang an, flexibel, weg vom jede-Woche-ein-(oder zwei, drei)-Referat-Stumpfsinn!
Starre Themenpläne verhindern fortlaufende Diskussionen. Besser wäre es, jede Woche über Inhalt und Ausschmückung des nächsten Termins zu entscheiden. Am Anfang des Semesters kann ein Brainstorming stehen: Warum sind wir hier? Was wollen wir überhaupt? Was interessiert uns am Thema? Welche Fragen und Probleme kennen wir schon? Wie wollen wir einsteigen? In den ersten Sitzungen könnten ProfessorInnen oder StudentInnen Einstiegs-Informationen geben. Danach kann das Seminar überlegen, wie es weiter arbeiten will.
Um die jeweils nächste Sitzung oder den nächsten Themen-Block vorzubereiten, kann sich eine Arbeitsgruppe gründen. Oder alle bereiten sich gleich mit Texten vor. Oder es kommen Beiträge zum Zuge, die schon länger erarbeitet worden sind: Einige Arbeitszirkeln können sich beim ersten oder zweiten Treffen zusammenfinden und ihre Beiträge bis zur vierten oder fünften Woche parat haben. Gewiß: so eine Praxis braucht Zeit. Nur: Wieviel kostbare Zeit vertrödeln wir jetzt?
Weniger: Es ist der Tod lebendiger, ergebnisreicher Diskussionen, ein Seminar mit Referaten vollzustopfen.
Besser: Zum Semesterbeginn, besonders in den Einführungen muß das Thema: "Wie und warum halte ich ein Referat?" erörtert werden. Referate sollen für die Zuhörenden (und die Referierenden!) Gewinn und Vergnügen sein - oder Ärgernis; aber auf jeden Fall nicht langweilig. Sie sollen Kontroversen wecken, kurz und prägnant sein; sie sollen alles weglassen, was wir besser nachlesen können. Sie sollen frei vorgetragen werden (nur Mut: die unvollkommenste freie Darbietung ist allemal aufregender als die ausgefeilteste Verlesung von Buchwissen).
Referate sollen Themen eigenständig behandeln und verdeutlichen, warum diese wichtig und interessant ist; Referate sollen möglichst viele Sinne ansprechen (Tafelbild, Overhead-Projektor, Demonstrationen, Filmausschnitte, Bilder, Dias, Toneinblendungen); sie sollen um interessante Fragen kreisen, nicht um Namen und freifliegende Theorien; sie sollen neue Gedanken ausprobieren und ungewohnte Verbindungen knüpfen - statt nur "sicheres Wissen" exerzieren; sie sollen erwägen, welche Konsequenzen Theorie für die Praxis hat - und nach Umsetzungsmöglichkeiten suchen; etc etc.
Anders: Es gibt viele Alternativen: schriftliche Arbeiten, Interviews, Hörspiele oder Filme, Essays, Diskussionspapiere, Reportagen, schriftliche Buchzusammenfassungen, literarische Versuche (Geschichten, Gedichte, Fabeln). Provokationen. Exkursionen, Reisen, Ausflüge. Einbeziehung des Publikums. Gespielte Dialoge bis Theater. (Rollen-) Spiele. Happenings. Ach, laßt Euch was einfallen! (Wenn nötig, dürfte es nicht so schwer sein, für den Schein eine kleine theoretische Untermauerung zu verfassen.)
Dazu kann es wichtig sein, Regeln formell zu beschließen - um die herkömmlichen, informellen, wirksameren Regeln "offiziell" außer Kraft und unsere an ihre Stelle zu setzen. Was spricht dagegen, eine Art "Seminar-Vertrag" abzuschließen. Rederegeln können eine lebendige, für alle SeminarteilnehmerInnen offene Diskussion erleichtern Sie sind nicht dogmatisch, sondern als Orientierungsmöglichkeit zu verstehen.
* Die Störung. Wenn Dir etwas mißfällt am (Rede-) Verhalten anderer, Dich die Atmosphäre im Seminar stört (wenn es etwa zu aggressiv wird) oder es Dir schwerfällt, inhaltlich zu folgen, sage das. Das ist wichtiger als die inhaltliche Diskussion.
* Das Blitzlicht. Jede und jeder erzählt, was sie oder er gerade empfindet oder zum Seminar sagen möchte. Es wird ersteinmal nicht kommentiert. Du kannst auch sagen, daß Du nichts sagen willst. (In Großgruppen sind Blitzlichter schwierig. Es ist es dann sinnvoll, das Seminar zu unterteilen.) Die Blitzlicht-Beiträge können auch auf Zettel geschrieben und anschließend von einer Person vorgelesen werden. Ob über das Blitzlicht gesprochen wird, entscheidet die Gruppe.
* Die Kreativität der Pause. Bitte um eine Pause, wenn die Seminarsituation zu anstrengend wird, die Gemüter sich allzusehr erhitzt haben oder die Diskussion stockt.
* Feedback. Zu Beginn jeder Sitzung und nach jeder längeren Pause ist es sinnvoll, sich noch einmal kurz den aktuellen Diskussionsstand zu vergegenwärtigen. Außerdem ist hier Platz für Kritik, Lob oder Vorschläge.
* Die Chance der Redeliste. Auf Wunsch kann eine Redeleitung eingeführt werden. Die geschlechtsquotierte Redeliste sollte unter besonderer Berücksichtigung der SeltenrednerInnen geführt werden. Redelisten sollten auch auf Wunsch von Einzelnen geführt werden. Eine quotierte Redeliste ermöglicht gerechtere Redestrukturen und eine größere Vielfalt der geäußerten Gedanken - gerade von dieser Vielfalt lebt ein Seminar!
Versuche, auf die Gefühle anderer zu achten. Verletze nicht unnötig mit zynischer Polemik oder bloßstellenden Fragen; formuliere Deine Kritik sachlich. Zeige Dich kritikfähig, um die sachliche Kritik anderer zu ermöglichen. Übe auch Zustimmung! Lasse während und nach Redebeiträgen Pausen zu, ruhig auch mal längere. So kann das Gesagte verarbeitet werden, die leidige "Schnellschußmentalität" wird durchbrochen. Manchmal kann auch ein schneller Schlagabtausch belebend wirken, allzulang oder zu häufig angewandt, ermüdet er aber.
Rede so kurz wie möglich, damit es den anderen leichter fällt, Dir zuzuhören und Dich ausreden zu lassen. Überlege Dir, welche Deiner Beiträge wirklich wichtig für die Diskussion sind, und welche Beiträge nur Deine ZuhörerInnen beeindrucken sollen.
Schnelles und kompliziertes Reden überfordern viele ZuhörerInnen. Mache Dir bewußt, daß Du selbst Zeit gebrauchst hast, um die Gedanken zu entwickeln, deren Ergebnis Du jetzt in gepackter Form darstellst.
Versuche auf jeden Fall, auf den Gedankengang der Diskussion einzugehen. Falls Du einen neuen Gedankengang einbringen willst, sage das vorher. Vielleicht wollen andere noch etwas zu der laufenden Diskussion sagen. Ziehe dann Deinen Beitrag zurück.
Nimm die Gedanken der anderen genauso wichtig wie Deine eigenen. Bemühe Dich, den anderen zuzuhören und sie zu verstehen. Fragen sind sinnvoll, wenn Du verstehen, Dich einer Position versichern willst oder wenn jemand unverständliche Fremdwörter benutzt.
Mache eigene Meinungen und Kritik als solche deutlich kenntlich. Wiederhole Deine Meinung nicht ständig. Du wirst damit Deine/n DialogpartnerIn nicht überzeugen und langweilst das Seminar. Versuche, immer den Menschen anzuschauen mit dem Du sprichst. So wird deutlich, mit wem Du redest, und Du kannst die Reaktion auf Deinen Beitrag beobachten.
Versuche, weibliche Sprachformen zu verwenden und in Deiner Sprache keine sexistische, rassistische und unterdrückende Vorurteile zu reproduzieren.
Sag' nicht "man", wenn Du "ich" meinst. Trau' Dich, die Verantwortung für das, was Du sagst, durch ein klares "ich" zu übernehmen. Verallgemeinere nur, wenn es Dir wirklich sinnvoll erscheint. Und gebe Abstraktionen zu erkennen.
Dieser Text ist dem Ersti-Info des AStA der Uni Marburg entnommen.